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Das Ende der Nacht

  • Writer: Kerstin Mohr-Podlech
    Kerstin Mohr-Podlech
  • Jan 5, 2024
  • 4 min read

Updated: Jan 6, 2024

VOM ENDE DER NACHT


Rabbi Pinchas fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn die Sonne aufgeht?" „Nein", sagte der Rabbi. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ fragte einer der Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“ fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgend eines Menschen blicken kannst und deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Martin Buber (1878 – 1965)


Ja, so lange wir in uns noch Anteile ablehnen, wegschließen, verstecken, uns für sie schämen, entsteht in uns ein Graben, eine Spaltung, herrscht Krieg in uns. Wir erkennen uns selbst nicht und wir können auch im anderen nicht unsere Schwester und unseren Bruder erkennen. Die Menschen, denen wir begegnen spiegeln uns immer alle unsere Anteile. Die, die wir mögen und schätzen und auch die, die wir ablehnen. Dementsprechend gibt es eben auch Menschen, die wir mögen und die wir nicht mögen.


Wenn wir in der Welt Frieden wollen, dürfen wir bei uns selbst anfangen.


In ganz kleinen Schritten.

Das wohlwollend anzuerkennen, was da ist. Ganz gleich was.

Ob es Wut, Trauer, Angst, Schüchternheit, zu laut, zu leise, zu dick oder zu dünn, zu ungeschickt, zu vorlaut, zu schusselig, zu perfektionistisch , zu peinlich, zu hysterisch, zu unberechenbar, zu dumm, zu gutmütig, zu fordernd, zu chaotisch, zu langsam....

Was auch immer es ist. Es hatte einen guten Grund, dass es in uns entstanden ist. Es hat uns, meist in unserer Kindheit, vor zu überfordernden oder überwältigenden Momenten und Situationen geschützt. Dadurch war es uns möglich, uns trotzdem weiterentwickeln zu können, weil der überfordernde Moment mit all den überwältigenden Gefühlen einfach abgespalten wurde.


Heute sind wir erwachsen und ärgern uns über diese störenden Anteile, die doch so sehr unsere Liebe, unser Verständnis und unser Wohlwollen bräuchten, um endlich heilen und integriert werden zu können.

Und sie haben es so verdient, denn sie haben uns damals mutig und erfolgreich gedient und sich schützend vor uns gestellt und unser Überleben gesichert.


Vielleicht geht das nicht von heute auf morgen.

Aber vielleicht können wir uns selbst ein klein wenig liebevoller und wohlwollender behandeln.

Mehr in die Beobachterhaltung gehen. Unseren inneren Dialogen lauschen um herauszufinden, wie wir über uns selbst denken. Was wir in uns ablehnen. Und uns dann ganz vorsichtig, wie der Kleine Prinz dem Fuchs, an diese ungeliebten Anteile annähern.


Und das kann tatsächlich damit beginnen, dass wir uns z.B. immer wieder mal am Tag fragen: "Wie fühle ich mich gerade?" , "Was brauche ich?", "Was würde mir jetzt gut tun?"

Und vielleicht kann ich mir die Frage manchmal garnicht beantworten, weil ich so weit weg bin von mir.

Und auch das einfach wohlwollend anzuerkennen und anzunehmen.

So ist es eben jetzt gerade.

Denn die inneren Anteile sind vermutlich ziemlich beleidigt, weil wir bisher meistens ziemlich unfreundlich (und das ist wahrscheinlich noch eher nett formuliert) mit ihnen umgegangen sind. Sie trauen uns nicht, haben Angst, dass wir wieder einen Eimer eiskaltes Wasser über sie auskippen.


Woher weiß ich denn, was ich in mir ablehne?

Kuck dir an, welche Menschen du nicht magst, wen du ablehnst.

Das, was du an anderen nicht leiden kannst, was dich an anderen aufregt, hat etwas mit dem zu tun, was du auch in dir nicht leiden kannst und ablehnst.

Z.B. Menschen, die gut für sich sorgen, die Pause machen, wenn sie eine brauchen, oder sagen, wenn ihnen was zu viel ist, die werden mich triggern, wenn ich das nicht kann. Wenn ich einen inneren Antreiber auf der Schulter sitzen habe, der mich zwingt, weiter zu machen, auch wenn ich müde bin und nicht mehr kann. Der mir sagt, stell dich nicht so an, so schlimm ist das garnicht, die Arbeit muss fertig werden.

Menschen, die sehr chaotisch und planlos agieren, werden mich irre machen, wenn ich ein Mensch bin, der gut strukturiert und geordnet ist.

Aber wir sind eben nicht nur entweder oder.

Der sehr chaotische Mensch hat seine Struktur vermutlich irgendwo weggesperrt. Und der gut strukturierte Mensch hat dafür seinen "die Seele baumeln lassen-Anteil" weggeschlossen.

Alles aus gutem Grund.

Die Liste lässt sich unendlich fortsetzen.


Und immer, wenn ich so einen Moment wahrnehme, in dem ich mich über einen Menschen oder eine Menschin aufrege, kann ich in die wohlwollende Beobachterhaltung gehen und freundlich zwinkernd annehmen, dass ich mich jetzt eben aufrege. Und anschließend kann ich mich fragen, worüber ich mich ärgere, um herausfinden zu können, was das mit mir zu tun hat.

Robert Betz nennt diese Menschen, die uns triggern "Arschengel".

Weil wir uns anfangs immer über sie ägern und erst, wenn wir verstanden haben, dass sie uns helfen können, unsere blinden Flecken, unsere Wunden, unsere abgespaltenen Anteile zu entdecken, werden sie zu unseren Engeln.

Ich hab eine Faustregel gehört: "Alles, worüber du dich mehr als 30 Sekunden aufregst, hat mit dir selbst zu tun."


In dem ich wieder bei mir ankomme, verlasse ich den Kriegsschauplatz, weil ich nicht mehr sofort losballere, sondern ins Beobachten gehe.

Denn, auch wenn ich im Außen kämpfe, so kämpfe ich letztendlich doch immer nur in und gegen mich selbst.


Wir sind alle auf dem Weg. Und wir sitzen alle im selben Boot.

Und wie schön, wenn wir mehr und mehr Frieden in uns selbst finden, unsere inneren Anteile aus dem Schatten holen, ihnen erlauben da sein zu dürfen, sie kennenzulernen, sie anzunehmen und wir so immer vollständiger werden und langsam heilen können.

Dann können wir analog zu unserem inneren Prozess immer öfter in den Gesichtern anderer unsere Schwestern und Brüder entdecken.



Copyright: Kerstin Mohr-Podlech




 
 
 

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